Es ist schon eine Zeitlang her, dass Kyoto sein absolutes Highlight hatte: Sakura, die blühenden Kirschbäume und ihr Betrachten, Hanami genannt. Dort, wo vor kurzem noch weiße Blüten leuchteten und staunende Bewunderer anlockten, tragen die Bäume jetzt wieder ihr Sommerkleid. Kyoto hat sich überraschend schnell zur „Stadt in Grün“ umgewandelt. Entlang vieler Straßen stehen – wie so oft in Japan seltsam beschnitten – begrünte Ginkobäume wie Zinnsoldaten auf Wacht, die Schösslinge des Bambus durchbrechen lautstark den Boden der Gärten und Haine (ja, man hört sie buchstäblich wachsen), in den Bergen ringsum schießen in hellem Grün zwischen dunklen Nadelbäumen krauswüchsig wie Brokkoli die neuen Triebe der Laubbäume in die Höhe: Schön gefleckter Higashiyama, Bergkette im Osten Kyotos.
Und die Kirschblüte? Schon vergessen? Nein, wie könnte man, wie könnten wir? Und doch, in diesem Jahr war sie, war das Hanami, für uns nur die gespaltene Freude – ein bisschen vielleicht doch zum Vergessen?
Zugegeben: Sakura ist auch für diejenigen, die diese Zeit schon mehrmals erlebt haben, immer wieder so etwas wie ein Wunder, man könnte auch sagen Zauber oder Baum-Magie: Wenn aus den winterdürren Zweigen mit ihren – wie wir auch dieses Mal wochenlang beobachten konnten – recht lang dahinkümmernden Knospen plötzlich mit PATT, wie die Japaner sagen, wenn jemand vom Schlaf erwachend die Augen aufschlägt, sich die Knospen öffnen, wenn sich die Zweige, voll und schwer mit ihren dicht an dicht mit Blüten besteckt, einander zuneigen und weiße oder pinkfarbene Tunnel bilden, man könnte auch sagen Himmelsgewölbe, unter dem man auf Wegen oder an Flussläufen entlang – Tempel, Schreine und Gärten nicht zu vergessen – einhergehen kann.
Eine Woche, zuweilen auch zehn Tage lang ist Kyoto ein einziger blühender Kirschgarten. Sakura ist ein fröhliches Frühlingsfest, das mit Picknicks unter Bäumen gefeiert wird, wo aber hin und wieder nach oder neben fast andächtiger Betrachtung der Blütenpracht, manch einem auch ihre Endlichkeit bewusst wird, das, wie es heißt, „Zur vollen Schönheit aufblühen und in Würde vergehen“.
Nun mag sich mancher Leser dieser „Lobpreisung“ fragen, warum ich von einer gespaltenen Freude schreibe: Auch in diesem Jahr war uns die Sakurazeit vergönnt, aber leider getrübt durch den unglaublichen Übertourismus in Japan, vor allem in Kyoto. Wo Massen aus aller Welt der Kirschblüte zuströmen und sich zig Hände, mit Smartphones bewehrt, den Bäumen und Sträuchern entgegenstrecken, selbst in früher eher versteckten Winkeln, wo man für ein Foto oder auch nur für eine Weile zur stillen Bewunderung anstehen muss, hat die Freude ein Ende. Ich habe die begeisterten Ausrufe japanischer Hanami-Betrachter vermisst, ihr „kirei-kirei-wie schön-wie schön“! Im Babel-Geschrei ringsum gingen sie leider unter.
Trotz dieser eher betrüblichen Eindrücke, sind mir am Ende doch einige Szenen oder Augenblickserlebnisse im Gedächtnis geblieben:
Der alte Chinese auf einer Bank im Maruyama-Park: vergnügt, ja geradezu strahlend, blickte er auf die fotografierwütige Menge, die sich um die berühmte Shidare, die „Hängende Kirsche“ (weeping flower) drängte, genoss, vermutlich für ein paar Tage als Tourist mit seiner Familie dem Reich der Mitte entflohen, das Treiben um sich herum, lächelte mir zu,
das kleine Mädchen im Kimono, wie es sich unter den hängenden Zweigen mal herausschauend, mal zurückweichend, versteckte,
der Blick von der Ginkakuji-Brücke über „unseren“ Philosophenweg auf den weit sich über den Kanal mit seinem zumeist silbrig-durchsichtigem Wasser ausgebreiteten Blütenhimmel der weißen Yoshinokirsche, so einzigartig dicht und fein gefügt, dass wir im Schauen – mehrmals, ich gebe es zu – das stetige Gedränge für Minuten vergessen konnten,
der Hase unterm Blütenzelt, von seiner „Herrin“ zwischen die ausladenden Wurzeln eines Kirschbaums gesetzt; wie missmutig schnuffelnd er, sorgsam am Halsband gehalten, in die Sakura-Welt blickte, man konnte es lustig finden, oder? nun ja, immerhin, grün und frisch unter seinen kräftigen Pfoten war das Gras ….
der Tag mit unseren Kindern im Nanzenji Tempel, als wir zu unserem Erstaunen an einem der Kirschbäume, einer Shidare, die ersten geöffneten Blüten erblickten, und uns gemeinsam mit einigen gleichfalls überraschten Besuchern erfreuten an diesem „Wunderbaum“, die Freude mit hineinnahmen in den Zengarten des Tempels; schließlich, Anfang und Ende ineinander geknüpft, an einem der letzten Sakura-Tage, in einem Abseitswinkeln nahe unserer früheren Wohnung, die Bäume im „Sakura Chiru“: die Blüten fallen! Im leichten Wind schwebten sie über dem quellklaren Wasser des alten Kanals mit seinen bemoosten Wänden: Äste in Grün und Pink – ein letzter Leuchtbogen in der Frühjahrssonne: KIREI! … sagten’s und gingen hinüber in die Konditorei „Second House“, uns ein japanisch-deutsches Törtchen zu gönnen – zum Abschluss.
P.S. Der 2 km lange mit ca. 800 Kirschbäumen bestandene Weg am Fuße des Higashiyama Berges in Kyoto wird im Gedenken an den japanischen Philosophen Kitaro Nishida „Tetsugaku no michi=Philosophenweg“ genannt; es heißt, er sei ihn häufig zur Kyoto Universität gegangen oder meditierend entlang gewandelt. „Unser“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass wir in unserem ersten Japan-Jahr in seiner Nähe gewohnt und ihn zu unserem „idyllischen“ Wanderweg erkoren hatten. Er ist es bis heute geblieben.
== BILDERGALERIE ==
Weitere Beiträge über die Kirschblütenzeit in Japan finden sich in meinem Blog durch Klicken auf folgende Links:
Hanami – Kirschblüten schauen 2011 —- Kirschgarten Kyoto 2015 —– SakuraChiru 2015